IBM auf dem Weg in die Welt der Industrie 4.0 (Interview)

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Plamen Kiradjiev, Architektur-Experte für Industrie 4.0-Lösungen bei IBM Deutschland, nimmt in dem Interview Stellung zu unterschiedlichen Facetten von Industrie 4.0.

Sehen Sie den Schritt in die digitale Welt der Industrie 4.0 als Evolution oder eher als Revolution?

Es kommt auf die Perspektive und Ausgangssituation an. Seitdem ich vor sechs Jahren das erste Mal in einem Werk war, fasziniert mich jede Gelegenheit, die hochoptimierten Produktionsprozesse zu beobachten und das in Jahren dort aufgebaute Prozesswissen zu bestaunen. Andererseits, als jemand mit starkem IT-Hintergrund, kommen mir einige IT-unterstützte Arbeitsschritte vor wie auf dem Niveau vom letzten Jahrhundert.

Die Vereinheitlichung von evolutionären Lean Manufacturing-Ideen, Automation und aktuellen IT-Technologien wie AI, AR, IoT, Blockchain bis hin zu Quantum Computing bergen selbst in hochoptimierten Produktionsprozessen die Möglichkeit, in Sachen Effizienz, Qualitätssteigerung und Fehlervermeidung einen qualitativen Sprung – gleichbedeutend mit einer Revolution – zu vollführen. Dasselbe beobachten wir auf der Produktseite – die Innovation bei der Verbindung von Produkten und deren digitalen Schatten kennt keine Grenzen.

Wo stehen wir mit dem Thema Industrie 4.0 in Deutschland, gerade mit Blick auf die starken Wettbewerber aus Amerika und China?

Das Interessante ist, dass jeder Kontinent, jedes Land in allen Bereichen der Wirtschaft, Soziales, Politik und Bildung mittlerweile sein eigenes Programm für die Digitalisierung hat. Manche Länder sind eher gründlicher und fangen mit einer längeren Planungsphase an, andere probieren aus, dritte machen große Investitionen. Auf jeden Fall braucht man eine gesunde Kombination von allem. Wir sind stolz, dass wir den Begriff der Digitalisierung in Deutschland mit dem Begriff Industrie 4.0 geprägt haben, wie ein Trademark, und zwar mit „ie“ geschrieben :-)

Es ist auch der Grund, dass wir als IBM unsere Watson IoT-Zentrale in München angesiedelt haben, aber auch dass meine Ansprechpartner als I4.0-Verantwortliche in Deutschland sitzen, unabhängig davon, wo die Firmenzentrale ist – Deutschland, USA oder China. Allerdings wissen wir alle, dass sich niemand auf den Erfolgen der Vergangenheit ausruhen darf. Die meiste Arbeit, die richtige Arbeit beginnt damit, das in Pilotprojekten Gelernte sicher umzusetzen und den qualitativen Unterschied im Geschäft zu realisieren.

Fintechs wirbeln die Finanzbranche durcheinander, innovative Start-Ups die Automobilbranche. Haben Sie Sorge, dass kleine agile Unternehmen oder vielleicht die großen IT-Player aus dem Silicon Valley wie Amazon, Apple und Google die Regeln auch in der Industrie-Branche ändern?

Wir erleben eine ununterbrochene Spirale der Innovation. Wir leben in einer globalisierten Welt, wo es keine Grenzen zwischen Ländern, Industriezweigen und Technologien gibt. Die Katastrophenszenarien und Beispiele für die Disruption kennt mittlerweile jeder aus den Reden von Digitalisierungspionieren, Analysten und Profi- Keynote-Speakern. Seit einiger Zeit allerdings wird auch erkannt, welche Chancen die Platzhirsche in der Digitalisierung haben.

Eigentlich ist das logisch, weil sie „nur“ ihre traditionsreichen Produkte mit der sich in schnellen Drehzahlen entwickelnden IT anreichern müssen. Dass dies nicht einfach ist, zeigt die Anfangsstarre, wo Unicorns lediglich auf Basis virtueller Plattformen viel Geschäft abgegriffen haben. Die richtige Stärke kommt jedoch nicht nur aus dem „Rundherum“, sondern es geht darum, reale Produkte zu veredeln und damit Mehrwert beim Kunden zu bieten. Wir bei IBM haben uns von Anfang an für den Weg entschieden, unsere Kunden dabei zu unterstützen, dieses digitale „i-Tüpfelchen“ für ihre Geschäftsmodelle aufzubauen, sei es mit Technologie, Service oder Lösungen.

Ist das Thema Industrie 4.0 in der Breite gerade bei kleinen und mittelständischen produzierenden Unternehmen angekommen? Werden die Themen angegangen?

Definitiv und das ist geradezu natürlich. Jeder hat ein Smartphone in der Tasche, jeder nutzt einen Web- Suchdienst, kauft online ein. Kaum jemand kann noch tolerieren, dass man umständlich Dateien kopieren bzw. Papier ausdrucken muss, um einen Auftrag aus dem ERP-System in die Produktion zu bringen, oder dass man kryptische Meldungen entziffern muss, oder für einen einfachen Change Request am Dashboard monatelang warten muss. Self-Service und Ergonomie im Privatbereich und repetitive, umständliche Prozesse im Arbeitsleben, das passt nicht zusammen.

Außerdem unterscheiden sich kleine und große Unternehmen bei der Digitalisierungsreise kaum –  jeder möchte erst sehen, fühlen, sich überzeugen und die Lösungen dann standardisiert und effektiv überall einsetzen. Daher haben wir früh ein dreistufiges Verfahren etabliert, womit wir in kleinen Schritten die Digitalisierung im Unternehmen gemeinsam mit dem Kunden konkret entzaubern, von Shopfloor Integration, über Predictive Analytics, bis hin zu AI, IoT und Blockchain. Gerade, wenn man schon mit Microservices-, Cloud- und Open Source-Technologie experimentiert hat, weiß man ganz genau, dass hierbei die Unterschiede zwischen Groß und Klein verschwinden.

Was wären Ihre Empfehlungen an die Unternehmensleitung von diesen Unternehmen – was sind mögliche Schritte auf dem Weg zur smarten Fabrik?

Wir empfehlen einen schrittweisen Ansatz, für alle Unternehmen, nicht nur für KMUs. Die Industrie 4.0-Aktivitäten haben sich an der Strategie des Unternehmens und an einer Zielarchitektur zu orientieren.

Ist das Land der Dichter und Denker gut gerüstet für den Weg in die digitale Welt? Müssen wir uns verändern und reicht es, einfach so weitermachen wie in der Vergangenheit?

Wir kommen von einem hohen Technologiestand, den wir weiter ausbauen müssen. Konkurrenz kommt manchmal aus ungeahnter Richtung. Offen sein für Neues, aber auch schneller Entscheidungen treffen, informierte bewusste Entscheidungen – das müssen wir stärker kultivieren. Eine höhere Technologieaffinität in den oberen Etagen schadet auf keinen Fall.

Was ist Ihre Motivation für Ihr Engagement bei der SmartFactory-KL und welchen Mehrwert ziehen Sie aus der Partnerschaft?

Ich sage es aus tiefer Überzeugung: SmartFactory-KL ist die ideale Lern- und Showcase-Fabrik. Wir lernen gemeinsam mit unseren aktiv beteiligten Partnern voneinander, während wir aktuelle Trends in diesem kreativen Labor realisieren – IoT, Edge Computing, Predictive Analytics und Machine Learning, und in letzter Zeit vertiefen wir mehr und mehr das Thema KI in der Produktion, die Nutzung der IBM Watson-Technologie. Seit letztem Jahr „spricht“ die Anlage mit Hilfe von Watson Assistant bzw. „fühlt“ potentielle Ungenauigkeiten am Mettler Toledo-Modul, die die Qualitätsmessung beeinträchtigen könnten.

Dieses Jahr fügen wir zwei weitere Sinne hinzu – das Hören durch IBM Acoustic Insight und die Erkennung von Qualitätsproblemen auf Basis von Bilderkennung (Sehen) – erneut mit Hilfe unserer . Auch für mich persönlich betrachte ich SmartFactory-KL als eine große Bereicherung, wo ich spielerisch und praktisch meinen Horizont erweitern kann. Das teilen alle aktiv Beteiligten aus unserem Team, vom Entscheider über die Techniker bis hin zu unseren Studierenden.

Welche Dienstleistungen und Erfahrungen bringt IBM in der Musteranlage der SmartFactory-KL mit ein und welcher Nutzen wird dadurch generiert?

In den fünf Jahren aktiver Mitwirkung bei SmartFactory-KL sind über 20 IBM Produkte und Lösungen in die Musterfabrik eingeflossen, von der zentralen Drehscheibe für die Maschinendaten an der Anlage, über die analytischen Fähigkeiten von Watson Studio als Collaboration Analytics-Plattform, bis hin zur virtuellen Repräsentation von SmartFactory-KL als Digital Twin in der IBM CLoud mit Hilfe der Watson Services und IoT-Angebote. Vor allem probieren wir gefragte Konzepte und Lösungen bei SmartFactory-KL aus, wie Plant Service Bus, Multi-Cloud, Edge Computing, Wechselwirkungen zwischen Predictive Maintenance auf Herstellerseite und Ausübung des Datenhoheitsrechts auf Anwenderseite, die wir dann erfolgreich bei vielen Kunden zum Einsatz bringen.

Wenn Sie Bildungsminister wären – was wären Ihre Maßnahme, um die Menschen für die Welt der Industrie 4.0 fit zu machen?

Neulich bei einem Workshop in Brüssel zum Thema High-Tech Skills EU Vision 2030 habe ich Opher Brayer und sein Programm STAGES kennengelernt. Der Fokus dabei ist nicht das Erlernte selbst, sondern die Öffnung zum effektiven Lernen und die Entwicklung schon im frühen Schulalter in Richtung T-Shape – also die vereinigten Stärken von Generalisten und Spezialisten – ich würde es sogar Multi-T-Shape nennen. Nicht nur bei IBM wird großer Wert draufgelegt, Spezialisierung mit Generalisten-Kenntnissen beim Skillaufbau zu kombinieren. Das ist vor dem Hintergrund der Globalisierung und Digitalisierung ein Muss. Wir müssen das Bildungssystem auffrischen mit Konzepten, die Erfolge in diese Richtung bringen.

Die bloße Nutzung von Tablets im Unterricht empfinde ich nur als mechanische Instrumentalisierung, es ist kein Qualitätsmerkmal. Wie entwickle ich die Kunst alles zu erlernen, was ich brauche und es dann erfolgreich einzusetzen – das ist die Frage. Die Werkzeuge – Smart Devices, Internet, KI sind vorhanden. Deren smarter Einsatz ist die Kunst. Auch ohne in irgendeiner Form zuständig für Bildungsfragen zu sein, habe ich Opher eingeladen, bei einem der regelmäßigen Industrie 4.0 Community Konferenzen bei uns seine Methodik vorzustellen. Es ist auf jeden Fall eine Bereicherung und Möglichkeit zur Selbstreflektion für jeden.

Interoperabilität und Flexibilität sind in der Fabrik von morgen elementar wichtige Themen. Wo stehen wir hier aus Ihrer Sicht heute in Bezug auf Standards, Schnittstellen und Technologien und wie kann IBM hier unterstützen?

Das Thema Standards ist elementar wichtig, denken wir nur an die verschiedenen Stromadapter, die wir in unserer europäischen Nachbarschaft brauchen. Daher leistet IBM einen aktiven Beitrag in den Standardgremien weltweit. Neulich habe ich eine Liste dieser Beteiligungen ermitteln lassen – es waren Dutzende, wo IBM als Gründungsmitglied oder Arbeitsgruppen-Lead und damit unter den Autoren von Spezifikationen in diesem Umfeld ist. Andererseits sind sie weder das Allheilmittel, noch ein Hindernis für die Digitalisierung. Schauen wir uns die bei der IT seit Jahrzehnten etablierten Standards wie Web Services, REST, XML an.

Heißt es, dass zwei Systeme, die REST-Services anbieten, sich direkt verstehen? Und wie sieht es mit 20, 200, 2000 Systemen aus, keine zu große Zahl in einem Werk. Als IT Architekt kann ich behaupten, dass Standards unsere Arbeit erleichtern. Ohne eine erprobte Architektur können Standards die Komplexität bei der Datenkonnektivität, Verdichtung und Analyse nicht vermeiden. Genau an dieser Stelle bieten wir von IBM unsere Erfahrung und Technologie an, um den nicht unwesentlichen IT-Teil vom Industrie 4.0 Kuchen beizusteuern.

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Plamen Kiradjiev, Industrie 4.0 Architektur-Experte bei IBM, nimmt in dem Interview Stellung zu unterschiedlichen Facetten von Industrie 4.0.
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//Analyst//Blogger//Keynote Speaker// zu den Fokusthemen #Industrie40, #IoT und #Digitalisierung. Herzlich willkommen auf meinem Ingenieurversteher-Blog. Hier schreibt ein echter, aber nicht ein typischer Ingenieur. Nach einer soliden Ausbildung bei Siemens zum Feinmechaniker habe ich das Abitur nachgeholt und Maschinenbau studiert. Der Schwerpunkt Informatik im Hauptstudium war wohl der ausschlaggebende Grund, dass es mich in die Software-Industrie gezogen hat wo ich heute noch immer aktiv unterwegs bin. Für die Funktionen Vertrieb, Marketing und Produktmanagement habe ich mich meine Leidenschaft entdeckt – sicherlich nicht immer typisch für einen Ingenieur. Im Rahmen meiner Diplomarbeit haben mich Themen wie „Computer Integrated Manufacturing (CIM)“ beschäftigt. Viele Aspekte sind davon heute umgesetzt. Mit der Digitalisierung unserer Gesellschaft allgemein sowie dem Einzug des Internets in die Produktion stehen wir vor großen Herausforderungen, die uns langfristig intensiv beschäftigen werden. Der klassische Ingenieur wird nun mit völlig neuen Themengebieten konfrontiert. Das war u.a. die Motivation für diesen Blog, die Themenbereiche Industrie 4.0 und Digitalisierung aufzugreifen und regelmäßig darüber zu schreiben – leicht verständlich und nicht technisch tief. Gerade aus diesem Zusammenhang hat sich die Marke „Ingenieurversteher“ entwickelt. Ingenieure sind in der Regel Künstler mit einem sehr tiefen technischen Verständnis. Oft sind sie allerdings nicht in der Lage, technisch komplexe Zusammenhänge leicht verständlich einer Zielgruppe zu vermitteln, die nicht über dieses tiefe technische Wissen verfügt. Um Ideen und Innovationen zu vermarkten, müssen diese in eine leicht verständliche Sprache übersetzt werden. Mit einer Vorliebe für analytisches und strukturiertes Recherchieren , der Leidenschaft für das Schreiben und der Freude am Präsentieren ist die Idee vom „Ingenieurversteher“ entstanden.